Bitkom-Behauptung: 20.000 Studien sollen Entwarnung geben
Quelle: Interview des Tagesspiegels mit Bitkom-Chef Volker Jung
Geben 20.000 Studien wirklich Entwarnung?
Wo sind diese 20.000 Studien?
Der Vorsitzende des Industrielobbyvereins Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) Dr. Volker Jung hat in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel, in dem er sich zum Thema Mobilfunk und Gesundheit äußerte, folgendes erklärt: "Kein einziges von insgesamt 20.000 Gutachten hat unterhalb der bestehenden Grenzwerte auch nur einen Verdacht auf Schadwirkungen festgestellt."
Lassen wir einmal dahingestellt, dass Herr Dr. Jung mit "Gutachten" wohl "Studien, Untersuchungen" meinte, denn ein Gutachten wendet nur den bereits existierenden Wissensstand auf eine konkrete Situation an und führt nicht zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Allein die Höhe dieser Zahl liess uns stutzig werden. Ein Rechenexempel: Wenn man z.B. von einer durchschnittlichen Länge von 100 Seiten pro Studie ausgeht und am Tag 55 Seiten liest, benötigt man 100 Jahre (Tag und Nacht), um diese Studien zu lesen.
Die Elektrosmognews wandten sich daraufhin an Bitkom und baten um Erklärung sowie um Zusendung der Liste dieser 20.000 Studien mit Verfasser, Publikationsorgan, Erscheinungsjahr und Seitenzahl.
Herr Hintemann von Bitkom antwortete uns. Die Liste konnte er uns nicht vorlegen, er verwies uns auf die Datenbank des Forschungszentrum für Elektro-Magnetische Umweltverträglichkeit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, die im Internet unter www.femu.de erreichbar ist. Dieses Forschungszentrum steht unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. habil. med. J. Silny, einem Industriewissenschaftler, der seit vielen Jahren für die Mobilfunkindustrie tätig ist. Herrn Prof. Silny Unabhängigkeit zu unterstellen, wäre also gewagt. Dennoch, wir suchten die Datenbank von Herrn Prof. Silny auf und fanden dort nur etwas mehr als 5.000 Einträge, meist in Englisch.
Diese Einträge sind noch nicht einmal alles Studien und der größte Teil davon hat mit Mobilfunk wenig bis nichts zu tun. Dennoch fanden wir selbst in der FEMU-Datenbank nach kurzem Suchen schnell gleich mehrere Studien mit "Verdacht auf Schadwirkungen" durch elektromagnetische Felder verschiedener Art, u.a. Arbeiten von Hardell, jenem schwedischen Forscher, dessen Studien bei den derzeit laufenden Gehirntumorprozessen gegen die amerikanische Mobilfunkindustrie eine Schlüsselrolle einnehmen.
Wir fragten uns nun, wo denn nun diese ominöse "20.000 Entwarnungs-Studien-Liste" sei und kontaktierten Bitkom erneut.
Herr Hintemann antwortete erneut. Diesmal nannte er eine andere Quelle, den "Leitfaden zum Umgang mit Problemen elektromagnetischer Felder in den Kommunen", zu finden unter http://www.emf-risiko.de/leitfaden-emf/index.html, erarbeitet von der Programmgruppe Mensch, Umwelt, Technik des Forschungszentrums Jülich, einer sehr industrienahen Institution, deren Mitarbeiter sich seit Jahren durch Verharmlosung von Umweltgefahren hervortun und im Auftrag von Mobilfunk- und Atomindustrie durch die Lande ziehen und bei Veranstaltungen und in Fernsehsendungen auftreten, um die Sorgen besorgter Bürger herunterzuspielen. Die Programmgruppe Mensch Umwelt Technik (MUT) wird von Dr. Peter M. Wiedemann geleitet, Psychologe und in der Vergangenheit bereits in ähnlicher Weise für die Atomindustrie tätig. Als Partner der Programmgruppe werden beispielsweise T-Mobil und Vodaphone Produktentwicklung angegeben.
Im Kapitel 2 dieses sogenannten "Leitfadens" findet sich dann auch diese ominöse Zahl 20.000 und zwar in folgendem Kontext: "Forschung zu elektromagnetischen Felder gibt es seit mehreren Jahrzehnten. Ungefähr 20.000 Arbeiten existieren und jährlich kommen etwa 500 dazu."
Zum einen wird hier von "Forschung zu elektromagnetischen Feldern" gesprochen und nicht von den speziellen Mobilfunkfrequenzen. Bekannt ist auch, dass GSM-Mobilfunk nicht schon seit Jahrzehnten existiert.
Zum anderen ist auch hier keine Quellenangabe zu den 20.000 Studien zu finden. Das Quellenverzeichnis des Pamphlets ist äußerst dürftig und beschränkt sich fast ausschließlich auf Arbeiten von Prof. Bernhardt und Dr. Norbert Leitgeb, beide bekannte Mobilfunk-Lobbyisten.
Die wissenschaftliche Grundlage des "Leitfadens" ist dürftig und einseitig.
In dem Dokument http://www.fz-juelich.de/mut/hefte/heft_81.pdf teilt die Programmgruppe MUT die Mobilfunkgegner in Gruppen ein (Seite 58, Abschnitt 5.3.) und analysieren diese für ihren Auftraggeber. Offensichtlich, damit dieser dann "zielgruppenspezifisch" gegen diese vorgehen kann.
Nachdem wir also auch mit dem Hinweise auf den "Leitfaden" der Programmgruppe MUT des Forschungszentrums Jülich nicht zufrieden waren und dort ebenfalls keine Quellenangaben zu den 20.000 Entwarnungsstudien zu finden waren, haben wir uns erneut an Bitkom gewandt, mit der Bitte, uns die Liste der 20.000 Studien vorzulegen.
Herr Dr. Kullnick antwortete uns diesmal wie folgt:
"Wir bitten Sie, sich an die forschungsfördernden
Institutionen bzw. öffentlichen Behörden zu wenden.
BITKOM sieht damit Ihre Anfrage
als beantwortet an."
Wir konstatieren, Bitkom ist nicht in der Lage, eine Liste der 20.000 Entwarnungsstudien vorzulegen. Bitkom ist gleichfalls nicht in der Lage, seriöse Quellenangaben für die Herkunft der 20.000 Studien zu machen. Nichtsdestoweniger sah der Bitkomvorsitzende Jung kein Problem darin, in einem Interview mit einer Tageszeitung diese ominöse Zahl zu nennen, ohne hierfür Belege zu haben.
Für uns ist deshalb nur eine Schlußfolgerung möglich: Die 20.000 Entwarnungsstudien existieren nur in der Phantasie der Mobilfunkindustrie und ihrer Lobbyverbände.
h.e.s.e project
Webmaster der Elektrosmognews und
Pressesprecher der Arbeitsgruppe EMF/Mobilfunk im h.e.s.e.-Project